Hausausschlag auf Büffelweiden Zurück zur Textauswahl
(Der Bund, 3. August 2009)

Am 1. August chauffierte die SBB Heimatwillige zu den Wurzeln ihrer Familie. Die Berner Schriftstellerin Stefanie Grob fuhr nach Wiesendangen, wo einst bucklige Büffel weideten und heute Wegweiser den Weg zum nächsten Wegweiser weisen.

„Was Wiesendünger?!“ gefolgt von zwei, drei Stakkato-Lachlachlauten, ist die Standardreaktion, wann immer ich meinen Heimatort nenne. Es handelt sich dabei um einen noch unerforschten Wortspielreflex, dem bisweilen sogar Schalterbeamte erliegen. Mir ist die Verballhornung egal. Ich habe keinen Bezug zu meinem Heimatort, war auch nie dort. Bis vorgestern.

Die Platzierung der Füsse meiner Ahnen

Dabei liegt Wiesendangen nur einen Katzensprung entfernt von Zürich, wo ich seit Jahren schon wohne. Hunderte Male hätte ich hinfahren können, die Hauptstrasse lang gehn, Besserverdienerhäuschen ansehn, den Dorfbach queren, hinein ins alte Zentrum mit seinem Hauch Welschlandcharme, und mich bei jedem zehnten Schritt fragen, ob hier, genau hier, auch mein Urgrossvater, Albert Heinerich, schon seinen Fuss aufgesetzt habe und zwei Meter weiter womöglich mein Grossvater, der, eines Buchstabens beraubt, nur mehr Albert Heinrich hiess.

Warum ich hunderte von Male nicht gefahren bin? Was weiss ich. Wahrscheinlich hat sich mein Unterbewusstsein oft und intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob es für meine persönliche Entwicklung belebend sein würde, mir im Nordosten von Winterthur Gedanken über die Platzierung der Füsse meiner Ahnen zu machen, und befand es bisher als wenig erspriesslich.

Aber jetzt bin ich da und will alles wissen, was mich noch nie interessiert hat. Ich beginne im Löwen. 1671 erstmals in Urkunden erwähnt, sei das Gasthaus, sagt der Wirt und empfiehlt, nach weiteren Sehenswürdigkeiten gefragt, das Museum im Schlossturm, direkt hinter Jimmys Imbiss-Baracke. Ein Museum, denke ich, wie nett. Sofort gewillt, mir die Dorfgeschichte über alle Jahrhunderte hinweg einzuverleiben, beschleunige ich meinen Schritt, finde den Turm, nur keine offene Tür. Und auch kein Schild mit Öffnungszeiten. Überhaupt deutet nichts darauf hin, dass es sich hierbei um ein Museum handelt. Mitten in der prallen Mittagshitze stehe ich im Regen. Und dabei begann der Ausflug gerade bezüglich Beschilderung äusserst vielversprechend: Vor dem Ausgang der Bahnhofunterführung steht ein Wegweiser, der einem den Weg „zum Hauptwegweiser“ weist, der keine zwanzig Meter weiter unten platziert ist, am einzigen gangbaren Pfad.

Eine alte Frau schiebt ihren Rollator vorbei. Ich frage nach dem Turmmuseum. Sie sagt „es öffnet nur einmal im Monat“ und dann, fast geheimnisvoll „an einem Sonntag“. Wie diese Blume denke ich, die nur eine Nacht blüht, um sich dann wieder ein ganzes Jahr lang zu sammeln. Was die Wiesendanger an Schätzen in ihrem Museum zusammengetragen haben, wird mir wohl für immer verschlossen bleiben. Nun, eine Nofretete wird es nicht sein. Auch keine zweite Mona Lisa.

Die Bibel in der Brusttasche des Soldaten

Dann eben zum Friedhof. Schon in der zweiten Gräberreihe der erste Grob. Rudolf. 1908 – 1991. Zwei Reihen weiter liegt Wilhelm, 1912 - 2006. Dann Anna Grob-Walter, 1912 – 2005. Mein Grossvater wurde 1916 geboren. Ich frage mich, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis diese Grobs zu ihm stehen - Brüder, Schwester, Cousine, Cousins - und merke wie wenig ich über diesen Zweig der Familie weiss, was sicher auch teilverantwortlich für mein bisheriges Desinteresse an Wiesendangen ist. (Im Heimatort meiner Mutter war ich immerhin als Kind mal in der Badi.)

Mein Urgrossvater war Fabrikarbeiter. Mein Grossvater Privatbriefträger. 1941 kam er als Trainsoldat ins Bergbauerndorf Habkern. Dort mussten die Dorfmädchen die Uniformen der Soldaten waschen, wobei meine Grossmutter in der Brusttasche des jungen Albert Heinrichs eine Bibel fand. Sie verliebte sich augenblicklich in ihn. Vom Kitschgehalt her fast schon ein Fall für SF, das für seine Reduit-Vorabend-Soup mit ganzseitigen „getrennte Liebe – gemeinsamer Kampf“-Inseraten wirbt, auf denen ein scheuer Soldat ein hübschen Bauernmädchen anlächelt, als wäre es damals die Hauptsorge der Nation gewesen, ob sich einer getraut, einer ein Blümchen zu schenken. Für meine Fleischwerdung hingegen war die scheue alpine Anbandlung meiner Grosseltern tatsächlich von zentraler Bedeutung.

Später dann zogen die beiden auf die kleine Scheidegg, er wurde Stationsgehülfe, sie schwanger. Mein Vater Albert, heute Bert, mein Onkel Heinrich und meine Tante Therese wurden geboren. Und bald wandelte sich, was wie ein Heimatfilm begann, immer mehr zum Psychodrama. Meine Grossmutter war krankhaft böse, sie kennen hiess unter ihr leiden, was mein Vater keinen Tag länger als bis 20 tat. Dann flüchtete er vom Berg herunter nach Bern, wo anfangs 74 mein Bruder zur Welt kam und Ende 75 ich.

Asteroiden und Altglas

Ich finde noch drei weitere Grob-Gräber mit fleischigen Tagetesblüten. „Jesus ist Sieger“ steht auf Johan und Perside Grobs Grabstein. Und weiter hinten auf dem Friedhof steht ein alter Leichenwagen, mit dem man, zwei Pferde vorgespannt, die Toten einst zum Friedhof fuhr. Am Kopf- und Fussende wurde der Sarg mit beeindruckenden Schrauben befestigt, damit es auf der holprigen Fahrt nicht zu einem unverhofft schnellen Wiedersehen mit dem Verstorbenen kam.

Einen Moment lang bleibe ich noch stehen, um einer potentiellen Emotion die Chance zu geben, sich in mir auszubreiten. Aber wie so oft an Gedenkstätten verschliesst sich mein Gemüt dem Druck sich auf Kommando erschüttern zu lassen. Mit dem Bus fahr ich zur S-Bahn. Hässliche Neubauten, Sportplätze, Schulhäuser, Turnhallen, wieder Wohnblöcke. Ein Schlafdorf für in Zürich Arbeitende. Oder in Winterthur. Die Agglomeration der Agglomeration. Nirgendwo ein Fleckchen Natur, das nicht von Hausausschlag befallen ist. Den kilometerlangen Wiesendanger Rebhängen begegne ich erst zuhause auf dem Internet.

Dort lese ich auch, dass die Gemeinde viereinhalb Tausend Einwohner hat, von denen jeder jährlich 28 Kilo Altglas produziert. Und dass 2007 ein Zwergplanet auf den Namen Wiesendangen getauft wurde, der mit 84 000 Stundenkilometern um unsere Sonne rast.

Die Weide der Wisente

Hier unten ist 2007, nach einem 2-Generationen-Umweg über Bern, meine Tochter Hannah-Lynn als erste kleine Grob wieder auf Zürcher Boden geboren. Noch näher zurück an die Wiege der Sippschaft wird es, solange ich das Sagen habe, nicht gehen.

Übrigens: Der Name meines Heimatorts hat nichts mit gedüngten Wiesen zu tun. In einer Quelle aus dem Jahr 804 findet sich die althochdeutsche Bezeichnung Wisuntwangas - die Weide der Wisente. Wo heute die Wisidanger Notefäger musizieren, die Wisent Quitlers quilten und die Turnhausfrauen turnen, haben also mal Büffel geweidet, bucklige, massige Viecher wie in der Prärie. Wahrscheinlich waren meine Vorfahren, bevor sie begannen, einander Albert und Heinrich zu nennen, die letzten Indianer der Schweiz.